Strassenbahn mit AWO-Schriftzug

Unsere Mitarbeiter Stories

So vielfältig wie das Leben.

Pflege: Ein guter Deal fürs Leben

Dennis Fuchs ist Pflegekraft im Seniorenzentrum Knetzgau und hobbymaßig Fotograf, Filmemacher, Produzent und Musiker. Im Interview erzählt er uns, wie er es schafft, einen Job mit Schichtbetrieb und körperlicher Arbeit und so viele Freizeitaktivitäten zeitlich und finanziell unter einen Hut zu bekommen und was er über die Pflege denkt.

Wie bist du zur Altenpflege und zu deinen Hobbys gekommen?


Ich habe erst eine Ausbildung im Lager gemacht, aber schnell gemerkt, dass es nicht ganz meins war. Als letzte Zivildienst-Generation habe ich ein Jahr im Pflegeheim gearbeitet und bin da auf die Idee gekommen, die Ausbildung zu machen. Schien mir zukunftsträchtig. Da habe ich Sandra Partosch (heutige Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum Knetzgau) kennengelernt. Unsere Wege haben sich noch ein paarmal gekreuzt und letztlich sind meine Frau, die auch Pflegefachkraft ist, und ich nach Knetzgau ins Seniorenzentrum gekommen. Seit 2017 arbeiten wir dort.

Mit Video und Fotografie habe ich als Kind angefangen, nachdem ich meine erste Videokamera bekommen habe. Mit der Musik ging es 2000 los, mit einer günstigen Software. Ich habe HipHop und Rap komponiert, dann instrumentale Musik und ganze Trailer, Videos und Dokumentationen über Bergsteigen und Freizeitparks und neulich einen Partysong. Ich mache einen Podcast und fotografiere auch gerne. Meine Bilder sind auf Instagram zu finden.


Verdienst du mit deinen Hobbys auch Geld?

Gelegentlich, aber das ist nicht das Ziel. Ich probiere gerne Sachen aus und hatte nie einen bestimmten Plan. Viele Produktionen haben sich aus einer zufälligen Idee ergeben und ich hatte immer Spaß, das umzusetzen und zu probieren. Aus einem Genre bin ich in den nächsten gelandet usw.


Zwischendurch hast du aber als Tontechniker im Freizeitpark Geiselwind gearbeitet. Wieso bist du zur Altenpflege zurückgekehrt?

Ja, das habe ich eineinhalb Monate ausprobiert, mich hat das aber nicht überzeugt. Ich war teilweise lange Zeit im Freizeitpark, was echt cool war, aber da war wenig Struktur und wenig Zeit für Freizeit. Das ist in der Altenpflege anders.


Hat man im Beruf des Altenpflegers trotz Schichten und Personalmangel Zeit für Hobbies?

Definitiv, wenn man aktiv und bewusst seine Zeit nutzt und das mit dem Partner vereinbar ist. Meine Frau und ich versuchen, die gleiche Schicht zu haben und verbringen dann die Freizeit zusammen. Wir gehen beide gerne in die Berge und in Freizeitparks. Dafür nutzen wir oft die freien Tage unter der Woche, da ist in diesen Gebieten nichts los und es macht mehr Spaß. Meine Frau liebt Fitness und wir versuchen 3-4 Mal in der Woche ins Fitness-Studio zu gehen. Wenn wir in der Gegenschicht sind, nutze ich die Zeit zum Kreativsein: Im Aufnahmestudio, um Musik zu schreiben oder Videos zu schneiden. Das geht nämlich schlecht zu zweit.


Ihr macht auch regelmäßig größere Reisen…

Ja, wir sind 2-3 Mal im Jahr unterwegs an weit entfernten, schönen Orten: Dubai, Bali, Thailand, Malediven.


Das funktioniert mit dem Altenpfleger-Gehalt?

Ja, das geht. Wir arbeiten beide in Vollzeit und sind Fachkräfte. Wir brauchen keinen großen Luxus, dafür häufiger weg sein und exotische Orte sehen. Wir wissen, was wir wollen, und arbeiten daraufhin.


Und du bist wahrscheinlich selbst ein Exot: Als Altenpfleger für die Musikbranche und als Künstler für den Altenpflegeberuf. Was ist dein eigentlicher Antrieb im Leben?

Ich möchte Dinge gut machen und glücklich sein. Ich möchte gesund sein und kreative Sachen machen. Ich bin stolz und fühle mich wohl, wenn mir ein Projekt wieder gut gelingt. Mir ist nie langweilig und ich suche immer nach der nächsten Herausforderung.


Du hast deinen Beruf gar nicht erwähnt. Ist er dann nur Mittel zum Zweck?

Jein. Altenpflege ist ein schöner Beruf. Nicht mein Traumberuf, aber ein sicherer, ehrlicher Job, der mir persönlich viel gibt und dazu ein sicheres Einkommen und planbare Freizeit bietet. Das ist ein guter Deal für ein zufriedenes Leben und ein gutes Backup für meine Hobbies.


Muss man dazu nicht berufen sein?

Nein. Du brauchst aus meiner Sicht Empathie, Sorgfalt und Teamgeist. Wenn man seine Sache ordentlich macht, kann man zufrieden sein. Man muss es ernst nehmen, dann geht man zufrieden nach Hause. Man muss den Beruf so sehen und nehmen wir er ist und sein Leben drumherum bauen. Das klappt, wenn man es möchte.


Du beklagst dich ja gar nicht über die Zustände in der Pflege

Ich finde den Pflegenotstand genauso schlimm wie alle anderen. Ich kenne auch das Gefühl, dass es einem über den Kopf steigt. Wenn man alleine auf dem Wohnbereich steht und ganz klar weiß, dass man nicht mehr alles schaffen kann, was ansteht. Da schimpfe ich auch, aber ich lasse es mir auf keinen Fall anmerken. Wir müssen Profis sein. Die Pflegekräfte können viel selbst tun, um sich im Beruf wieder wohlzufühlen. Viel mehr als sie denken.


Sind nicht die Rahmenbedingungen und der Personalmangel schuld?

Sicherlich ist das ein Grund. Wenn aber alle über den Tellerrand schauen würden, wären 90 Prozent der Dienste halb so schlimm. Die Probleme in der Pflege sind vielfältig, aber vieles kommt direkt durch die Menschen, die da arbeiten. Sie sind immer weniger diszipliniert und jammern immer mehr. Ich bin vor kurzem übers Wochenende nach Mallorca geflogen, war aber pünktlich zum Frühdienst da. Das gehört dazu. Damit zolle ich meinem Beruf Respekt. Nicht alle machen das.


Was ist das Problem der Pflege?

Das Problem der Pflege ist nicht größer als das aller Dienstleistungsberufe: Man möchte für dieses Geld nicht mehr so viel Arbeit verrichten. Das ist nicht nur ein Problem der Rahmenbedingungen, sondern vielmehr der Einstellung der Menschen. Wofür gehe ich arbeiten und was ist für mich eine wertvolle Arbeit? Wie viel tue ich selbst dafür, dass es mir gut geht? Was mache ich in der Freizeit? Wenn ich mir die Freizeit sinnvoll fülle, gibt mir das Energie für den Beruf. Das entscheide ich selbst, egal welche Regeln die Politik macht. Wir können viel selbst tun. Es ist viel möglich, auch wenn man in der Pflege arbeitet. Ich kann mir Reisen leisten und mache viel in der Freizeit. Dafür muss man sich Ziele setzen und die Zeit gut nutzen.

Er hat sein Hobby zum Beruf gemacht.

Bernd Kötzner ist der Brandschutzbeauftragte für die AWO Unterfranken. Er ist gelernter Schreiner, hat sich aber in der Schreiner-Krise von 2001 umschulen lassen und 20 Jahre lang in der Kunststoffbranche gearbeitet. Sein Hobby - die Feuerwehr begleitet ihn seitdem er 18 ist. In seiner Heimatstadt Zeil am Main ist er seit 1999 in der Freiwilligen Feuerwehr und war in den letzten sieben Jahren bei seinem ehemaligen Arbeitgeber als Brandschutzbeauftragter. Mit dem Wechsel zu der AWO Unterfranken hat er seine Tätigkeit in der Kunststoffbranche beendet und sein Hobby endlich zum Beruf gemacht.


Bernd, was fasziniert dich am Feuer?

Am Feuer gar nicht so viel, denn immer, wenn es brennt, hat irgendjemand einen Schaden erlitten. Deswegen mein Motto: Vorbeugen ist besser als Löschen.


Bist du noch aktiv in der Feuerwehr?

Ja, klar. Ich bin seit 24 Jahren bei der Feuerwehr, sie ist ein großer Teil meines Lebens. Feuerwehr ist für mich kein Hobby, sondern eine Lebenseinstellung.


Weil ihr oft ausrücken müsst?

Weil wir viel üben müssen. Jeden Mittwoch ist Feuerwehrtag, am Wochenende haben wir oft Ausbildungen und natürlich rücken wir auch aus. Etwa 100 Mal im Jahr.


Für welche Art von Notfällen werdet ihr gerufen? Und wie oft ist es ein Brand?

Die Brände sind gottseidank rückläufig. Oft sind es sogenannte technische Hilfeleistungen sprich Verkehrsunfälle, Türöffnungen, Wasser im Keller, Baum auf Straße etc. Auch die Katze auf dem Baum (lach) gehört dazu. Aber wir unterstützen auch bei größeren Festen, machen Brandschutzerziehung in Kindergärten, Feuerlöschübungen und dann noch eigene Veranstaltungen wie Tage der offenen Tür bei uns im Ort.


Und wenn es der richtige Einsatz ist - wie aufgeregt ist man?

Um ehrlich zu sein denkst du da überhaupt nicht mehr darüber nach. Du wirst ja zu jeder Tageszeit geholt, auch in der Nacht. Das Adrenalin schießt dir ins Blut und du bist hellwach. Und funktionierst. Als junger Mensch juckt es da schon in den Fingern. Endlich umsetzen, was man so oft geübt hat. Mit der Zeit wird man ruhiger. Man versucht immer den Menschen/Tieren zu helfen, so gut es halt nur irgendwie geht.


Was ist bei der AWO im Brandschutz anders als in der Industrie?

Es ist anspruchsvoller und komplexer und eigentlich auch viel wichtiger.


Inwiefern?

Natürlich gibt es in der Industrie viele unterschiedliche brennbare Stoffe mit teilweise großem Potenzial. Aber du hast zum größten Teil mobile Personen. Die Mitarbeiter*innen in einer Halle könne sich selbst in Sicherheit bringen. Du machst die Räumungsübungen und jeder weiß, was zu tun ist. Ein Seniorenzentrum ist aber viel schwerer zu räumen als eine Industriehalle. Oder ein Heim mit Menschen mit psychischen Einschränkungen, die nicht verstehen, was passiert. Hier geht es um viele Menschen. Deswegen bekommt der Brandschutz eine viel höhere Gewichtung. Wegen der zahlreichen vulnerablen Gruppe.


Braucht man da auch andere spezielle Kenntnisse?

Ja, in der Tat. Man kann sich als Brandschutzbeauftragter weiter spezialisieren. Das mache ich jetzt im Herbst, die Spezialisierung Brandschutz in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen.


Was sind denn deine Aufgaben bei der AWO Unterfranken?

Was ich dort mache nennt sich organisatorischer Brandschutz: Ich schule die Mitarbeiter*innen, schule die Brandschutzhelfer*innen, ich muss mindestens einmal im Jahr eine Begehung in jeder Einrichtung machen - das kommt auf das individuelle Brandschutzkonzept an - und ich werde eingebunden bei Umbauten und Neubauten. Das nennt sich dann baulicher Brandschutz.


Schulungen halten muss man auch können. Liegt dir das?

Das macht mir total Spaß. Ich bin sehr kommunikativ und gebe mein Wissen gerne weiter. Oft entwickeln sich in den Schulungen auch Diskussionen, weil ich gerne auch Infos für den privaten Bereich weitergebe und das interessiert viele, da werden Fragen gestellt und da dauert eine Schulung auch mal etwas länger.


Sind diese Schulungen nicht eher trocken?

Wenn wir auch eine Feuerlöschübung machen, definitiv nicht. Und auch sonst versuche ich pragmatisch zu bleiben. Ich will die Teilnehmer*innen nicht mit Fachbegriffen überfordern. Mir geht es wirklich darum, dass jede*r nach der Schulung die Grundsätze weiß: Was mache ich, damit nichts passiert. Und was mache ich, wenn doch was passiert. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die in der Pflege oder sonst am Menschen arbeiten. Ich möchte, dass sie wissen, wie sie die Menschen schützen, die ihnen anvertraut worden sind. Das gehört dazu wie die tägliche Arbeit, die sie machen.


Was sind die Infos, die in den Schulungen am meisten überraschen?

Eindeutig die Gefahren, die von Elektrizität ausgehen.


Kannst du ein paar Beispiele geben? Was sind die drei Don´ts der Elektrizität?

In Zweidrittel aller Brände ist Elektrizität die Ursache. Weil die Menschen diese Dinge oft nicht wissen:

1. Handy nicht über Nacht laden. Weil man es nicht überwachen kann.

2. Küchengeräte die nicht in Betrieb sind, aus der Steckdose ziehen. Die größte Gefahr kommt von Küchengeräten, es sind meisten Hochleistungsgeräte.

3. Keine Mehrfachsteckdosenbrücken bauen. Also eine Mehrfachsteckdose in die andere stecken, um mehr Geräte anschließen zu können. Das übersteigt irgendwann die Kapazität der Mehrfachsteckdose.



Was ist weiteres Grundwissen für die Pfleger*innen in den Einrichtungen?

Da gibt es schon einiges. Aber es reduziert sich auf: Wo ist der Feuerlöscher und wie bediene ich ihn? Und Wie bekomme ich die Menschen evakuiert? Als Überschriften. Zu sagen gibt es dazu ganz viel.


Bist du privat ein Brandschutz-Nerd?

Ich fürchte ja. Ich sagte doch, dass ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe. Meine Familie ist schon manchmal genervt.


Hast du ein Beispiel?

Klar. Ich habe immer den Brandschutz-Blick. Wenn wir im Urlaub in der Ferienwohnung angekommen sind, kontrolliere ich sofort die Rauchmelder, ob sie nicht abgelaufen sind oder ob der Flucht- und Rettungswegplan passt (lacht). Da rollt meine Frau gleich mit den Augen.

Eine Einrichtung macht sich auf, ihre Kultur zu ändern

Vor einiger Zeit hat das Marie-Juchacz-Haus (MJH) in Würzburg / Zellerau ein Projekt gestartet: Gemeinsam mit dem gesamten Haus die Werte, die Vision der Einrichtung zu überdenken. Auf keinen Fall ein Konzept für die Schublade, sondern eine gemeinsame Vorstellung über die Mission und das Leben der Menschen, die dort arbeiten und wohnen. In einer ersten Mitarbeiterversammlung, einer Zukunftswerkstatt, haben Mitarbeitende aller Berufe in einem World Café lose Ideen gesammelt zu den Fragen: Was ist mir wichtig in Bezug auf Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen, Angehörige und Ehrenamtliche? Dann haben sie in Qualitätszirkeln weiter nachgedacht über die Themen Wertschätzung, Miteinander, Team, Kommunikation, Struktur, Bewohner, Konzept, Ehrenamt, Angehörige. Alle im Haus haben sich beteiligt, über alle Berufsgruppen hinweg. So entsteht gerade eine Vorstellung, hinter der alle stehen - dazu tolle Werkzeuge und gute Ideen (Beispiele unter dem Interview) für den Alltag. Auch auf die Personalsituation hat das Auswirkungen. Wir haben mit Olivia Freitag, Qualitätssicherung im Bereich Gerontopsychiatrie und Konzept, darüber gesprochen, was dieses Verständnis ausmacht und welche Effekte sich für die Personalsuche daraus ergeben.


Die AWO hat viele Werte, eine Vision, Ziele und ein Führungsleitbild. Wieso macht ihr euch im MJH auf, eine eigene Vision zu entwickeln?

Das ist kein Widerspruch und hat mehrere Gründe: Wir haben zum Beispiel gemerkt, dass in unserer Vision die Mitarbeiter fehlten! Da standen viele Dinge drin darüber, wie wir mit den Bewohnern umgehen wollen, aber nichts über die Mitarbeiter - wie wir MITeinander umgehen wollen. Und wir wollten das als Führungsteam nicht alleine im stillen Kämmerlein machen, sondern mit dem ganzen Haus, mit allen Kollegen die Frage gemeinsam beantworten: Was wollen wir denn hier? Warum tun wir das? Wo wollen wir hin? Reingehen, waschen, rausgehen - das ist es bestimmt nicht! Wir wollen Menschen einen guten Lebensabend bieten. Ok. Was bedeutet das für uns? Und welche Rolle hat jeder einzelne dabei?


Ist das nicht Aufgabe der Führung, die Richtung zu zeigen?

Zum Teil. Wir glauben die Arbeit ist ein Ort, an dem man ein Stück seines Lebens verbringt. Da ist es wichtig, dass diese Zeit sinnerfüllt ist, dass man gebraucht und anerkannt wird. Man ist Teil von etwas. Das muss man spüren, dann kommt man gerne auf die Arbeit. Dieses Gefühl müssen tatsächlich Führungskräfte in die Welt rufen, vorleben, ernst meinen und den Rahmen schaffen, dass Menschen hier gute Arbeit tun können. Aber dann muss dieses Verständnis von allen getragen und gelebt werden. Deswegen müssen auch alle dabei sein. Denn wichtig ist der Prozess, dass wir über Dinge nachdenken und uns gemeinsam festlegen, wie wir diese Vision mit Leben füllen wollen.


Das ist einfach bei euch, ihr seid ein neues Haus mit Wohngruppenkonzept. Was macht eine ländliche Einrichtung ohne WGK?

Tatsächlich ist so ein Prozess unabhängig vom Gebäude und ob Wohngruppenkonzept oder nicht. Aber er hängt davon ab, ob sich Menschen finden, die sich für eine Idee begeistern und eine gemeinsame Vision voranbringen wollen. Sozusagen ein harter Kern - beharrlich und mit Leidenschaft - mit dem Mitarbeiter bereit sind, mitzugehen.

Und dann fängt man an, über Beziehungen nachzudenken. Sie sind die Grundlage jeder Arbeit mit Menschen. Sie sind zentral und Ausgangspunkt für alles, was wir tun. Wir haben zum Beispiel gerade mehrere Jubiläen im Haus gefeiert und beim Bewohnerfest haben wir uns die Frage gestellt – Was macht dieses Haus aus? Das Gebäude? Nein, sondern die Menschen, die das Leben hier ausmachen. Und die stehen in vielseitigen Beziehungen zueinander.


Welche Beziehungen habt ihr euch in den Qualitätszirkeln angeschaut?

Alle. Mitarbeiter untereinander, Mitarbeiter und Angehörige, Mitarbeiter und Ehrenamtliche, Mitarbeiter und Bewohner, da nochmal besonders Bewohner mit Demenz. Für uns gehören alle diese Gruppen zu einem lebendigen Haus. Und überall haben wir uns gefragt: Wie wollen wir, dass diese Beziehungen sind und was ist noch nicht so, wie wir es uns vorstellen?


Wieso sind Beziehungen bei Menschen mit Demenz so wichtig?

Für mich gibt es in der Pflege zwei große Herausforderungen: Der Personalmangel und die menschenwürdige Begleitung der Menschen mit Demenz, deren Zahl stetig steigt. Es ist naiv zu glauben, wir könnten alle Menschen mit Demenz auf dieser Welt in homogene Abteilungen stecken. Es wird überall immer mehr gemischte Stationen geben und da brauchst du eine hohe stabile Präsenz und eine hohe Professionalität von Seiten der Mitarbeiter. Das heißt eine offene Haltung, Bereitschaft, Konflikte zu begleiten und Beziehungen einzugehen.

Wir Geronto-Fachkräfte waren heilfroh, als 2019 der Expertenstandard Beziehungsgestaltung endlich bestätigt hat, also dass Beziehung ein wesentlicher, wenn nicht DER wesentliche Faktor für Lebensqualität ist. Menschen mit Demenz brauchen erst einmal nichts Anderes. Sie brauchen tragfähige Beziehungen, um sich als Mensch angenommen zu fühlen und am Leben teilzunehmen.


Wie meinst du das genau?

Nun, es braucht einen anderen Blick auf Menschen mit Demenz. Wenn wir sagen: „Der ist schwierig“, werten wir und sehen die Situation aus unserer Perspektive, was macht dieser Mensch mit mir als Pflegekraft. Wenn ich eine Beziehung zu ihm aufbaue, frage ich mich: „Was verstehe ich nicht an seinem Verhalten? Was gelingt mir gerade nicht? Welche Ideen müssen wir noch entwickeln?“


Nicht die Menschen mit Demenz müssen sich ändern, damit unsere Arbeit leicht ist. Wir müssen einen Weg zu IHNEN finden. Dann ist auch unsere Arbeit einfacher. Als mögliche Erleichterung haben wir dazu ein Instrument entwickelt, die „Ich-bin-Info“. Sie nimmt die Perspektive des Bewohners konkret in den Blick. Jeder Mitarbeiter aus jeder Berufsgruppe kann hier Wichtiges beitragen, wenn er bewusst über seine Beziehung zum Bewohner nachdenkt!


Müssen sich Pflegekräfte dazu weiterbilden?

Nein, es braucht keine Weiterbildung. Es braucht einen anderen Blick und eine gemeinsame Absprache - eben, eine Vision, wie wir mit den Menschen umgehen, wofür stehen wir gemeinsam. Das müssen alle mittragen. Und was dabei noch wichtig ist: Es sind nicht nur die Pflegekräfte! Deswegen hat unser Einrichtungsleiter Raimund Binder darauf bestanden, dass alle Mitarbeiter an den Qualitätszirkeln teilnehmen. Es braucht alle. Wir alle sind Teil des Systems Marie-Juchacz-Haus, es braucht jeden Einzelnen von uns. Wir alle wollen unseren Hausgeist leben.


Wie schafft ihr das?

Na der erste Schritt war eben diesen Werteprozess mit allen zu starten. Dann immer und immer wieder beteiligen. Jede Gelegenheit nutzen, über die gemeinsam festgelegten Werte zu sprechen und in den Alltag zu transportieren. Zeigen, dass es ernst gemeint ist. Und dann natürlich weiterarbeiten in den Qualitätszirkeln, die jetzt kleiner sind.

Dazu gehört, dass wir die entwickelten Instrumente auf den Wohnbereichen einführen, eine Probephase haben und die Erfahrungen auswerten. In der Probephase haben wir jetzt zum Beispiel das „Bedürfnisboard“. Ein Instrument, um ganz praktisch und individuell nach den Bedürfnissen des Bewohners zu arbeiten. Es wurde von Angehörigen eingebracht und dann gemeinsam entwickelt. Sind wir ehrlich, wie oft kommen Angehörige und sind erregt, das wir wichtige Bedürfnisse der Menschen nicht beachtet haben… dieses Board hängt in jedem Zimmer und kann Soforthilfe bei der individuellen Begleitung bieten.

Und dann ist uns bewusst geworden, dass wenn wir es ernst meinen, wir anders auf die Einarbeitung und Begleitung von neuen Mitarbeitern im Haus schauen müssen. Wir machen einmal im Monat einen Einführungsworkshop von einem halben Tag und wenn da nur zwei Leute sitzen, machen wir das für sie. Wir fangen mit unserer Vision an. Alle müssen das wissen und verstehen, dass sie mit in der Verantwortung sind, es mit uns zu leben. Aber wir sind nicht naiv zu glauben, dass es damit getan ist. Einen schlechten Tag auf Station kannst du nicht mit einem Workshop vorbeugen. Du brauchst Begleitung. Wir denken weiter über ein Patensystem und andere Mechanismen nach.


Wirkt sich dieser Prozess auch auf eure Personalsuche aus?

Wir denken, ja. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle, klar. Aber wir haben tatsächlich alle Stellen besetzt und bekommen Initiativbewerbungen, manche auf Empfehlungen von Angehörigen. Das ist ungewöhnlich. Wir sind überzeugt, dass so ein gemeinsames Verständnis mit entsprechender Haltung ein tolles Werkzeug ist in der Personalsuche. Denn wenn wir alle gemeinsam die Kultur festlegen, in der wir hier leben wollen, dann leben sie alle und erzählen darüber.


Ist es auch ein Hebel, wenn wir über schwere Rahmenbedingungen sprechen?

Definitiv. Du bestimmst selbst, unter welchem Stern du lebst und arbeitest. Selbst wenn die Bedingungen schlecht sind, kannst du immer entscheiden, wie du deinen Tag gestaltest. Diese Entscheidung triffst du jedes Mal, wenn du die Zimmertür zum Bewohner öffnest. Deswegen kommt es auf jeden einzelnen an, nicht nur auf die Pflegekräfte.

Wir versorgen Menschen, die auf uns angewiesen sind. Diese brauchen Fürsprecher, die für ihre Rechte einstehen. Das heißt, ich muss mich aufrichten, um für diese Menschen einzustehen. Das hat auch was mit mir selbst zu tun. Wenn ich mich für die Bewohner aufrichte, stehe ich auch für mich gerade. Und das ist meine Entscheidung alleine. Und in Beziehung miteinander, mit einem gemeinsamen Verständnis, hat das eine viel stärkere Kraft.




"Ich bin angekommen“

"Ich bin angekommen“, erzählt Felix Kraus. Er ist 33, arbeitet im Seniorenzentrum Schonungen in der Betreuung und ist seit seiner Geburt im Rollstuhl. Nach der Schule hat Felix eine Ausbildung zur Bürofachkraft gemacht, anders als viele Schulkolleg*innen, die zu den Werkstätten gegangen sind. „Ich habe mich fit gefühlt, ich wollte etwas Sinnvolles machen. Ich habe lange Zeit keine Arbeit gefunden.


Viele Betriebe haben immer noch Angst, einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Dass sie sie nachher nicht mehr loswerden“.

Über seine Freundin, die auch im Seniorenzentrum arbeitet, ist er auf den Bereich der Betreuung gekommen. Das hat ihm zugesagt. Er hat den Kurs dafür gemacht und nach einigen Stationen ist er über die Kooperation mit der Lebenshilfe 2020 in Schonungen gelandet. „Jeder Wohnbereich ist toll, aber hier auf dem beschützenden Bereich fühle ich mich wohl. Betreuung ist nicht nur Singen, Klatschen, Spielen und ich bin nicht der Animateur. Ich überlege mir genau, was ich anbiete und wie ich die Bewohner*innen aktiviere. Und ich bin auch der, der zuhört. Ich habe den Eindruck, dass sie mir vertrauen, vielleicht auch weil ich physisch auf Augenhöhe bin.“


Er ist Teil des Teams. Die Kolleg*innen mussten sich daran gewöhnen, ihn machen zu lassen. „Ich schreie schon, wenn ich Hilfe brauche“. Aber als ehemaliger Rollstuhl-Basketballer kommt er mit seiner Situation gut zurecht. Er schiebt die Bewohner*innen in ihren Rollstühlen herum, bringt sich seine Materialien und deckt den Tisch. „Als ich die Ausbildung gemacht habe, hat mir das keiner zugetraut. Du kannst doch im Rollstuhl keinen Rollstuhl schieben, haben sie gesagt. Und überhaupt bist du der Einzige der auf die Idee gekommen ist, sowas zu machen. Aber schau, es geht. Und macht auch noch Spaß.“

Zurück auf die Schulbank

Marcela Schaller aus dem Seniorenzentrum in Knetzgau drückt wieder die Schulbank. Nach über 20 Arbeitsjahren, im Alter von 53, nimmt sie ihre berufliche Zukunft in die Hand und holt ihre Ausbildung zur Pflegefachhelferin nach.


Dabei war Pflege für die gebürtige Slowakerin gar nicht ihr Wunschberuf. Sie arbeitete zwar in Nürnberg in einer Senioreneinrichtung, lernte da den Beruf in der Praxis, von Kolleg*innen. 2007 wagte sie einen familiären Neubeginn in Unterfranken und versuchte es erst mit anderen Branchen: Kindergarten, Einzelhandel – das sagte ihr alles nicht zu. 2016 als das Seniorenzentrum neu eröffnete, drängte sie ihr Mann zur Bewerbung. „Ich weiß es noch, als ich dahin kam, waren noch andere Bewerberinnen. Ich habe mir gedacht: Marcela, du hast keine Chance, aber geh rein und stell dich vor wie du bist.“ Sie bekam die Stelle und seitdem ist sie unzertrennlich mit ihren Senior* innen und Kolleg*innen im Wohnbereich Steigerwald verbunden.


Den Plan, die Ausbildung zu machen, hat sie seit vielen Jahren. Weil sie Hauptverdienerin ist, war das nie konkret ein Thema. Einrichtungsleiterin Sandra Partosch und Pflegedienstleiterin Nicole Krines unterstützten sie und blieben dran, bis vom Arbeitsamt die Zusage für die Finanzierung kam. Seit September geht ihr Traum in Erfüllung, sie ist überglücklich und sehr motiviert: „Ich habe mich so gefreut, dass es jetzt endlich geklappt hat! Es ist nicht einfach nach so vielen Jahren, es ist alles digital in der Schule,


aber ich will das schaffen und wer weiß, vielleicht mache ich weiter.“ Sie traut sich gar nicht, so weit zu denken, aber es funkelt in ihren Augen bei dem Gedanken, auch die Fachkraft anzupacken. Marcela hat in ihrem Leben viel mitgemacht. Ein Schicksalsschlag, ein familiärer Neuanfang, drei Pflegekinder großgezogen und jetzt pflegt sie ihren Schwager zu Hause, mit Unterstützung ihres Mannes. Jetzt ist auch ihre Zeit gekommen. Ihre Kolleg*innen nehmen sie freundschaftlich auf den Arm für ihre Entscheidung, stehen aber hinter ihr und bewundern ihren Ehrgeiz und ihre Entschlossenheit. Die Bewohner*innen vermissen sie und fragen bei jedem Besuch, wie lange der Schulblock noch dauern würde. Das Jahr wird schnell vorbeigehen. Und dann steht sie wieder vor der Entscheidung: Schulbank?

Angekommen im eigenen Leben

„Ich habe mich gefühlt wie in einem Glaskasten. Ich konnte das Leben draußen sehen, aber nicht teilnehmen.“ So beurteilt Milan Till rückblickend seine Kindheit und Jugend. Geboren als Tara Till lebt der 32-Jährige heute als Milan-Liam Till und hat das Gefühl, endlich in seinem Leben und bei sich angekommen zu sein. Der Altenpfleger arbeitet im Bernhard-Junker-Haus der AWO in Aschaffenburg.


Wann hast Du gemerkt, dass Du Dich nicht als Mädchen, sondern als Junge fühlst?

Milan-Liam Till: Das war eigentlich schon so, solange ich denken kann.


Wie hat sich das gezeigt?

Ich wollte nie Röcke oder Kleider tragen, meine Freunde waren alles Jungs und ich habe geweint, wenn meine Mama mir Zöpfe machen wollte.


Wenn es schon lange für Dich so eindeutig war, warum hast Du Dich erst mit 26 Jahren für die Geschlechtsumwandlung entschieden?

Mein verstorbener Vater war sehr lange krank und ich wollte meine Mutter nicht noch mehr belasten. Jetzt bin ich aber sehr froh und erleichtert, dass ich den Weg endlich gegangen bin.


Wie haben die Menschen um Dich herum reagiert?

Es war erstaunlicherweise gar kein Problem. Meine Mutter sagte, dass sie es eigentlich schon immer wusste. Mein Bruder hatte lange genug Zeit, sich darauf einzustellen. Und auch auf der Arbeit - ich habe ja schon seitdem ich 18 Jahre bin als Fachkraft in der Altenpflege gearbeitet - hat niemand mich deshalb komisch angeschaut, nicht mal die pflegebedürftigen Menschen im Haus.


Es gab also gar keine Probleme?

Doch, der Weg bis zur Entscheidung war schon lang und sehr steinig. Mir ging es einige Zeit lang sehr schlecht. Irgendwie passte nichts in meinem Leben. Ich fühlte mich, wie bereits gesagt, als ob ich nicht in mein Leben, in meinen Körper gehöre. Glücklicherweise stieß ich irgendwann auf eine passende Selbsthilfegruppe. Ich musste dafür zwar bis nach Heidelberg fahren, aber das hat mich so weit gestärkt, dass ich eine Therapie begonnen habe. Eineinhalb Jahre später war ich dann so weit, mein Leben zu ändern, indem ich mich entschloss, zu meiner gefühlten Identität zu stehen und als Mann zu leben. Begleitet wurde ich in der ganzen Entscheidungsphase ebenfalls von dieser Gruppe.


Wie sah der Weg konkret aus?

So eine Geschlechtsumwandlung ist ja nicht von heute auf morgen möglich. Das Gutachten von zwei Fachleuten, das damals für den Gerichtstermin nötig war, kostete beispielsweise 3000 Euro. Dann hat es fünf Jahre gedauert bis alles vollzogen war, ich die nötigen Operationen, auch unten herum, hinter mir hatte. Und natürlich muss ich mein Leben lang Hormone nehmen. Glücklicherweise vertrage ich diese gut und habe kaum Nebenwirkungen.


Kein einfacher Weg also?

Ja, das stimmt. Ich finde das aber auch gut so. Ich denke, um sich dafür zu entscheiden, muss der Leidensdruck hoch sein. Dass es heutzutage auf TikTok Tipps gibt „wie komme ich schnell an Hormone“ halte ich für fatal. Aber, ich empfehle allen, die sich zu 100 Prozent sicher sind, den Weg zu gehen. Es lohnt sich. Meine ganze Gefühlswelt hat sich gewandelt. Statt zu denken „Ich bin ein Fehler und gehöre nicht dazu“ fühle ich mich rundum wohl, bin gelassen, ruhe in mir selbst und freue mich mit meiner Verlobten auf unsere Hochzeit im nächsten Jahr.


Was ist deine Botschaft an die Welt? Was können Menschen aus deiner Geschichte lernen?

Ich wünsche jedem Menschen, dass er oder sie sein Leben leben kann. Egal was andere Menschen denken. Bist du selbst glücklich kommen und bleiben die richtigen Menschen zu Dir. Es lohnt sich nicht, Zeit und Energie zu verschwenden aus Angst vor dem, was andere über einen denken. Stattdessen sollte man leben, lieben, lachen, fallen und wieder aufstehen. Schließlich ist unsere Zeit im Leben begrenzt. Jeder Tag kann der letzte sein, das sollte man sich immer wieder vor Augen führen.

Wo ist der Weg zurück ins Leben?

Vier Kolleginnen aus dem Ambulant Betreuten Wohnen nehmen uns mit in ihren Alltag.


Bianca Balles ist auf dem Weg zur WG 3 und 4 in Miltenberg. Hier hat das Ambulant Betreute Wohnen im Namen der AWO ein Haus gemietet: Drei Stockwerke, ein schönes Sandsteinhaus mit Garten und Terrasse. Acht Bewohner*innen mit unterschiedlichen psychischen Krankheiten wohnen hier, Männer und Frauen. Bianca betreut die WG gemeinsam mit zwei Kolleg*innen.


Bianca besucht heute Vanessa, eine der Bewohner*innen. Vanessa ist im Juli in die WG gezogen. „Mir geht es viel besser, seitdem ich da bin. Ich habe wieder einen geregelten Tag und auch in meinen Sachen ist wieder Ordnung“, freut sie sich. Vanessa hat Depressionen und Hypochondrie. Eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt kommt nicht in Frage.


Sie arbeitet einige Vormittage in der Woche bei AWO AKTIV, dem Zuverdienstbetrieb in Miltenberg. Hier erledigt sie Tätigkeiten wie Verpacken, Gartenarbeiten oder Kreatives. Vielen ihrer Mitbewohner*innen wäre das zu viel. Da sie den ganzen Tag zu Hause sind, ist ein geregelter und strukturierter Tagesablauf umso wichtiger.


Normalität ist das Ziel

„Struktur und tägliche Routine sind Kernthemen, um die sich Vieles in unserer Arbeit mit den Klient*innen dreht“, erklärt Bianca. „Das Ziel unserer Arbeit ist, dass unsere Klient* innen zurück in die Selbständigkeit finden. Dinge, die für uns selbstverständlich sind und über die wir nicht nachdenken, fallen unseren Klient* innen sehr schwer. Dazu kommt, dass diesen Menschen ganz oft das Netzwerk wegbricht und sie ganz alleine dastehen.“


Bei Vanessa läuft es gut. „Sie wird immer selbstständiger und kümmert sich in der WG gemeinsam mit Ivan rührend um den Gemüsegarten. Dabei fühlt sie, dass sie damit der Gemeinschaft nützt und das ist unersetzlich. Diesen Sommer wurden wir alle mit Tomaten versorgt! Und ich habe dabei auch viel von ihr gelernt, das tut uns beiden gut!“

Vom Flüchtling zum Wohnbereichsleiter

Die Flucht und der Wille, sie hinter sich zu lassen.

Abdi Salaan Mahamad Abdisamad ist Wohnbereichsleiter im Haus der Senioren in Marktbreit. Er ist 23 Jahre alt, kommt aus Äthiopien und kam 2015 mit der ersten Flüchtlingswelle nach Deutschland. Er war 15, als er als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in Marktbreit ankam. In der Zwischenzeit ist viel passiert. Eine Geschichte über Flucht, viele Unterstützer, die den Weg ebneten und über den Willen, eine Zukunft aufzubauen.


Abdi ist eines von sechs Geschwistern. Die Familie gehört einer somalischen Volksgruppe in Äthiopien an. Es gibt dauerhafte Auseinandersetzungen mit dem äthiopischen Militär. Nachdem Familienmitglieder und Freunde inhaftiert werden, fasst die Familie den Entschluss, Abdisalaan außer Landes zu schicken.


Die Flucht dauert länger als ein halbes Jahr. Sie führt den jungen Mann über Landesgrenzen, in Autos, Bussen, auf Ladeflächen von Pickups, gequetscht mit 300 anderen Flüchtlingen in engen Räumen, versteckt in Lagerhallen oder auf Baustellen. Er durchquert dichte Wälder, die Wüste und das Meer. Da seine Mutter an jede „Zahlstelle“ pünktlich Geld an die Schleuser überweist, bleibt er von Misshandlung verschont. Aber er erlebt Gewalt und menschenunwürdiges Verhalten gegenüber anderen Flüchtlingen. Körperlich geht es ihm nicht gut.


Er kommt in Italien an und ist froh, am Leben zu sein. Von hier aus ist ihm das Ziel egal: „Ich wollte nur irgendwohin, wo ich meine Zukunft aufbauen kann“. In München auszusteigen ist nicht sein Plan, eigentlich ist er auf dem Weg nach Schweden, „aber die Menschen dort haben sich richtig um mich gekümmert, mich medizinisch untersucht und gleich am zweiten Tag zur Schule geschickt. Das hat mich beeindruckt und da habe ich beschlossen, in Deutschland zu bleiben.“ Bildung wird in Abdis Familie großgeschrieben: „Stehenbleiben würde ich nie. Wenn etwas zur Routine wird, suche ich nach einer neuen Herausforderung. So habe ich die Weiterbildung zum Wohnbereichsleiter angefangen.“ Einrichtungsleiter Ludger Schuhmann hat schnell eingewilligt und nun steht Abdi kurz vor dem Abschluss.


Schule und Ausbildung.

Die Zeit bis hierhin ist gezeichnet von Lernen, Anpassung, Jugendlicher sein. Abdi kommt in die UMF-Gruppe (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) nach Marktbreit. Die ländliche Region gefällt ihm nicht, er würde am liebsten zurück nach München. Georg Frank, unser Kollege, der damals in der UMF als Betreuer arbeitet, kümmert sich mit großem Engagement um die Jugendlichen. „Ich bin Georg so dankbar. Er ist verantwortlich für vieles, was ich geschafft habe.“


Auf Georgs Rat hin macht Abdi in den Ferien mehrere Praktika in unterschiedlichen Bereichen, arbeitet ehrenamtlich im Haus der Senioren am Wochenende, verdient sein erstes Geld und schnuppert in den Beruf. Er macht die einjährige Helferausbildung, dann die dreijährige zur Pflegefachkraft und wird 2020 im Haus der Senioren übernommen. In dieser Zeit unterstützt ihn eine Obernbreiter Familie, die Eltern einer Kollegin aus dem Haus der Senioren, tatkräftig. Sie nehmen ihn nach der UMF-Zeit bei sich auf, lernen Deutsch und andere Fächer mit ihm. „Ich will mir nicht vorstellen, wie die Ausbildung ohne sie gelaufen wäre! Auch haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass ich hier Fuß fassen konnte. Sie sind wie meine Eltern, ich bin ihnen sehr dankbar für alles, was sie für mich und uns getan haben. Bis vor zwei Jahren habe ich bei ihnen gewohnt, auch mit Frau und der ersten Tochter. Sie sind Oma und Opa für unsere Kinder.“ Und noch einer Person möchte Abdisalaan ausdrücklich danken: Seiner Deutschlehrerin Frau Haberkamp aus der Berufsschule, die in ihrer Freizeit ihm und anderen Jugendlichen aus der UMF-Gruppe zusätzlichen Unterricht gegeben hat und sie immer motiviert hat, weiterzumachen und nicht aufzugeben.


Angekommen im Leben.

Abdi hat im Laufe seines Reifungsprozesses auch das kleine Städtchen Marktbreit lieben gelernt. An die deutsche Kultur und das westliche Gesellschaftsleben hat er sich auch schon gewöhnt. „Am Anfang war ich beim Einkaufen überfordert – von allem zu viele Sorten.“ Sein Leibgericht ist noch immer Nudeln mit Tomatensoße. Was ihn kulturell aber überrascht hat, war, dass viele Bewohner*innen so selten von ihren Angehörigen besucht werden. „Zu Hause ist Familie ganz wichtig, die Älteren haben einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft.“ Mit seinen Arbeitskolleg*innen versteht er sich sehr gut. „Die meisten kennen mich, seitdem ich hier Praktikant war, sie kennen meine Geschichte, ich fühle mich sehr wohl hier.“


Abdi steht jetzt mit beiden Füßen im Leben. Mit 23 Jahren ist er zweifacher Familienvater und Führungskraft in einer Senioreneinrichtung. Unterstützung von großartigen Menschen und sein Wille, seine Zukunft aufzubauen und nicht stehenzubleiben, haben ihn hierher gebracht. Sein dauerhaftes Bleiben in Deutschland ist noch nicht sicher, die Chancen stehen aber gut, dass er und seine Familie die unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen